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MEIN JAKOBSWEG

Santiago ist nicht das Ziel des Jakobsweges, es ist der Anfang.

Mein Jakobsweg

Im Jahr 2022 unternahm ich eine ganz besondere Reise. Es war Frühjahr, es war Spanien, es war der Camino del Norte: Über sechs Wochen trugen mich meine Füße über Strände und Klippen entlang der spanischen Nordküste. Eine belebende Erfahrung. Land und Leute nahmen mich mit offenen Armen und großherzigem Charme auf. Begonnen hatte alles an der französisch-spanischen Grenze in Irun, folgen sollten Tage und Nächte voller Geschichten, bis schließlich meine Ankunft am Kap Fisterra, dem sogenannten Ende der Welt, gekommen war. Was dazwischen lag, was mit meinem Innen und meinem Außen geschah, das versuche ich hier in Worte zu kleiden. Eines kann ich gleich vorwegnehmen. Eine alte Pilgerweisheit besagt: „Santiago ist nicht das Ziel des Jakobsweges, es ist der Anfang.“ So sehr dieser Satz für jeden Pilger eine unterschiedliche Bedeutung haben mag, so sehr trifft er auf die Allermeisten zu. Für mich in jedem Fall. Der Camino ist wie das Leben. Er lehrt die Menschen, die ihn gehen, wieder und wieder mit neuen Perspektiven. Er lehrt, dass alles kommt und alles geht. Nur ich bleibe bei mir, Bleiben ohne stehen zu bleiben. Einen Schritt nach dem anderen gehe ich und bleibe doch immer bei mir. Faszinierend. Im Außen die Menschen. Ich brauche sie, ich brauche das Zusammensein, das Spaßen, das Flachsen, den Austausch. Auf dem Camino zeigten sie mir, wie wenig ich tatsächlich benötige zum Strahlen und Glücklichsein. Es ist nicht die Fülle des Rucksacks, sondern es ist das Erfülltsein in mir. Loslassen und mit leichtem Gepäck auf dem Weg in die Dankbarkeit.

Zurück in der Heimat. Viele liebe Freunde waren interessiert an meiner Reise, fragten, wie ich den langen Fußmarsch erlebt hatte: „Na, wie war es, was war das Beste an deinem Weg?“ Antworten wusste ich viele und musste sie zuerst einmal für mich sortieren. Was habe ich gelernt?

1. Eine Gemeinschaft

Die liebevolle Freundlichkeit der Pilger und aller Menschen auf dem Weg legte sich wie ein verbindendes Band über den ganzen Camino. Das war für mich die wertvollste Erfahrung und so möchte ich es auch hier an erster Stelle aufschreiben.

2. Alleinsein

Die Stunden des Beisammenseins am Nachmittag oder Abend wechselten sich täglich ab mit den Stunden des Laufens. Meist war ich allein unterwegs, ging für mich, beobachtete, verarbeitete. Ob schwierige oder angenehme Wahrnehmungen, ich durfte sie auf dem Weg immer mit mir allein und sofort klären. So hatte jeder Tag auf dem Camino seine eigenen Facetten und ich durfte ihnen in Dankbarkeit begegnen.

3. Jetzt

So oft hört oder liest man, das Leben ist jetzt, carpe diem, nutze den Tag. Doch Worte ersetzen keine persönliche Erfahrung. Der Jakobsweg war diese Erfahrung für mich, die erlebte Ergänzung zu den Worten. Ich lernte wieder, im Jetzt zu sein. Ich lernte, einen Schritt nach dem anderen zu gehen, egal wie groß, egal wie klein. Meine Konzentration galt dem Stein, der Erde, dem Laub oder dem Felsen, welchen ich in diesem Moment betreten durfte. Nur ich und das Hier und das Jetzt, ein intensives Zu-mir-Kommen.

4. Vertrauen

Das Sein im Jetzt erlaubte mir, die Gedanken des vergangenen Tages dankbar loszulassen und immer wieder ins Vertrauen zu gehen. Ein Vertrauen darin, dass sich die Dinge zum Guten fügen werden, dass mich wunderschöne Begebenheiten erwarten, wenn ich nur Schritt für Schritt meinen Weg fortsetzen werde. Auch wusste ich, dass jeder Schritt ein Neubeginn ist und ich immer wieder meinen Pfad neu ausrichten kann. Das Sein im Jetzt, das Vertrauen in mich und meinen Weg gaben mir die Kraft dazu. So fiel mir zum Beispiel der Anstieg am Berg leichter. Ich ging ihn in der Gewissheit, dass oben angekommen sicher ein Dorf oder eine Bar sein würde, wo ich meine leere Wasserflasche auffüllen kann. Eine wunderbare Übung für meinen Alltag.

5. Achtsamkeit

Das Schöne am Loslassen ist, so habe ich es erfahren: Das Gewesene darf einfach sein. Ich darf das Gewesene sein lassen. Und zwar im besten Sinne: Ohne Urteil, ohne Bewertung. Die Vergangenheit ist die Vergangenheit, egal ob es der letzte Tag, die letzte Stunde oder der letzte gesagte Satz war. Natürlich ist und bleibt es eine lebenslange Lernaufgabe, besonders bei meinen Liebsten und Nächsten, Gesagtes und Getanes nicht mit eigenen Gedanken zu färben. So schnell geschieht es und man beobachtet sich selbst beim Urteilen und Bewerten. Was hilft, ist das Einkehren in die Achtsamkeit. Was hat ein anderer Mensch, der mir auf meinem Lebensweg begegnet, bisher oder erst gestern erlebt, was hat ihn geprägt, welche Wege ist er gegangen? Oft weiß ich die Antwort darauf nicht oder kenne sie nur in Teilen, bei der Familie, bei Freunden und erst recht bei kurzen Bekanntschaften. Was ich jedoch weiß ist, dass hinter dem Handeln, hinter den Worten eines anderen Menschen immer eine Geschichte steht, geschrieben in unendlich vielen Grautönen von Weiß bis Schwarz, zu Papier gebracht auf den vorgezeichneten Linien des Lebens ebenso wie zwischen den Zeilen. Deshalb: Egal wie der andere Mensch mir begegnet, ich darf ihn mit Dankbarkeit und Vergebung in meine Erfahrungswelt aufnehmen. Und ebenso vergeben darf ich mir selbst, wenn meine Gedanken doch urteilen und bewerten. Achtsamkeit ist eine große Übung. Hat es diesmal nicht so gut geklappt, so versuche ich es beim nächsten Mal besser zu machen. Das ist mein Antrieb, deshalb bin ich auf dem Weg. Ihn zu gehen lohnt sich, das fühle ich mit jeder Faser meines Seins.

6. Loslassen und Neuanfang

Ein bisschen verrückt ist es schon: Das Thema Loslassen ließ mich den ganzen Camino über nicht los und so ist es eine Art rotes Band in diesem Text. Immer wieder ist es mir begegnet, meist in Gestalt meiner Mitpilger, die kamen und gingen. Es war häufig ein schmaler Grat zwischen dem Gefühl der Anhaftung zu den Menschen und dem Bereitsein sie ziehen- und loszulassen. In diesem Fall also waren es die neu gewonnenen Freunde, in meinem alltäglichen Leben sind oder waren es neben den Menschen auch Dinge, Geschichten, Glaubenssätze und Gewohnheiten, denen ich anhaftete. Der Weg hat mich das Loslassen gelehrt. „Loslassen heißt zu akzeptieren, dass du die Vergangenheit nicht ändern kannst, aber darauf zu bestehen, dass sie nicht deine Zukunft bestimmt.“, sagt ein Sprichwort. Das möchte ich weiter in mein Leben aufnehmen. Ich möchte Altes dankbar und vergebend loslassen, sodass die Hände frei sind, um neue Aufgaben anzupacken und zu meistern. Denn mein Jetzt liegt in meinen Händen.

Du möchtest auch auf eine Pilgerreise gehen und fragst dich, was du beachten solltest? Aus meiner Sicht ist das Wichtigste: Einfach machen, einfach losgehen! Doch Achtung, es besteht Suchtgefahr. Einmal Pilger, immer Pilger, so hörte ich die Menschen oft sagen. Auf mich trifft das zu. Wer einmal die Reise nach Santiago angetreten ist, der wird wiederkommen. Vielleicht auf einem anderen Jakobsweg, doch immer mit dem Ziel Santiago. Es gibt Männer und Frauen, welche mittlerweile ihr Leben auf dem Camino verbringen, welche die unterschiedlichen Routen auf und ab gehen oder welche eigene Pilgerherbergen eröffnet haben. Der Weg nach Santiago, die Gemeinschaft der Pilger macht süchtig. Das Laufen, das aufs Einfachste reduzierte Leben machen gesund und glücklich. Dabei ist es ganz egal wo und wie weit, wie lange und wie alt. Der Jakobsweg ist wie das Leben, ständig in Bewegung, eine fortwährende Veränderung. Mir hat der Weg wieder und wieder gezeigt: Alles ist im Fluss. Wenn ich das annehme, kann ich jeden Tag in Freude verbringen, beim Pilgern wie im Alltag. Veränderung ist nichts Bedrohliches, sie ist ein Geschenk. Deine Gedanken mögen sagen, pass auf, du kennst das nicht, du weißt nicht was kommt. Sie geben dir Gründe, weshalb es jetzt nicht geht loszulaufen. Doch du, dein Sein, darf sich auf das Geschenk freuen, Neues kennenzulernen. Stell dir deshalb einfach vor, du bist nicht deine Gedanken. Du bist nicht die Grenzen, welche dir deine Gedanken vorgeben. Du bist mehr, Du bist bewusstes Sein. Und DU allein bestimmst, was mit dir geschieht.

Auch Kevin, ein lieber Pilgerfreund, den ich 2019 auf dem Camino Portugués kennenlernen durfte, weiß sich auf neue Wege zu begeben. Seine Reisen auf dem Jakobsweg, durch Indien und in die Berge des nepalesischen Himalaya zeigten ihm: Das Leben ist mehr als wir wahrnehmen können, so vieles hat es uns zu bieten. Jeden Tag, jede Woche und jeden Monat hält unser Lebensweg neue Möglichkeiten für uns bereit. Oft ist es nur eine Entscheidung, und der Pfad verändert sich für immer. Er sei mutig, sagten ihm damals die Menschen, als er aufbrach ein halbes Jahr nach Indien und Nepal zu gehen. Er sei mutig, sagten sie ihm auch, als er dieses Jahr entschied, Wohnung und Besitztümer loszulassen. Für ihn jedoch wäre es mutig gewesen, alles zu lassen wie es war. Auch nicht zu entscheiden ist eine Entscheidung, die eine mag passiv, die andere aktiv sein. Er entschied sich fürs Losgehen. Und so hat ihn mittlerweile Teneriffa, die größte der kanarischen Inseln, willkommen geheißen. In den letzten zwei Jahren verbrachte er bereits Monate auf der Insel, lernte Menschen und Landschaften kennen und verliebte sich in das Leben dort. Wir telefonieren oft miteinander, tauschen uns aus, quatschen darüber, was uns bewegt. Immer wieder unternimmt er Wanderungen über schmale Berggrate und durch tiefe Täler, auf dem trocken-vulkanischen Hochplateau oder im wolkenverhangenen Regenwald. Er schätzt die Möglichkeiten, die Teneriffa ihm bietet.

Wenn du Lust hast, dich auszutauschen über Geschichten des Pilgerns und Losgehens, über Reisen in Indien oder Trekkings im Himalaya, dann freut er sich von dir zu hören oder zu lesen. Ebenso kannst du eine gemeinsame Wanderung mit ihm auf dem Minikontinent Teneriffa unternehmen, wo er sich die nächsten Monate niederlässt. Du erreichst Kevin unter seiner Website www.weltenfluss.de sowie seinen dort notierten Kontaktdaten.

Du lieber, einzigartiger Mensch! Ich danke dir für dein Sein und wünsche dir von Herzen eine weiterhin freudvolle Zeit auf unserer wunderbaren Erde.

PS: Tausend Dank an die Familien und an die Mitarbeiter unseres Familienunternehmens, welche meine Reisen und Erfahrungen erst möglich machen. Von Herzen, Euer Jörg

Joerg Reichelt Mein Jakobsweg
Jörg Reichelt